Geh mir bloß weg mit sex-positiv! Oder doch nicht?


„Wie lebst du deine Sex-Positivität?“ fragt mich die fremde junge Frau im Zoom.

„Öhm…“, antworte ich – ich bin gar nicht sex-positiv.

Das irritiert sie dann doch ein bisschen. J. hatte mich angefragt, ob ich ihr ein Interview geben könnte für ihre Master-Arbeit in Sexologie. Thema: Sex-Positivität. Sie sieht mich als „Expertin im partizipativen öffentlichen Kontext“.

Allerdings kommt der Begriff in meinen Texten nur einmal vor, und das im Rahmen einer kritischen Analyse sex-positiver Subkulturen. Bei mir steht stattdessen ganz absichtlich Sexkultur oder sexuelle Kultur.

Haarspalterei? Mitnichten:

Denke ich an sex-positiv, denke ich an sexy oder kinky Parties, Vulva-Watching, Workshops zum Thema Strap-Ons, Intimmassage und BDSM-Techniken. Entweder ist alles in Bonbon-Farben gehalten, oder aber in monochromem schwarz – je nachdem. Die Dresscodes sind einheitlich und unoriginell. Und alle sind permanent inspiriert, sanftmütig und gefällig. Einvernehmen, Inklusion und Toleranz haben einen sehr hohen Stellenwert. Das über allem stehende Motto: „Sex ist gut, gesund und natürlich.

Versteht mich nicht falsch: Das ist alles erstrebenswert und sollte auch so bleiben.

Aber, sorry: Es ist mir zu langweilig. Und zu selbstreferenziell. Und zu happy.

Zwar sind diese Menschen – anderslautenden Gerüchten zum Trotz – durchaus in der Lage, weiter als bis zum nächsten erreichbaren Genital zu denken – aber dann doch selten über die nächsten fünf bis zehn hinaus.

Zum Glück habe ich es in meinem Interview mit einer intelligenten Frau zu tun. Sie stellt mir eine interessante Frage nach der anderen. Allerdings ist es für mich eine Herausforderung, sie zu beantworten - denn was soll das denn nun sein, Sex-Positivität? Eine einheitliche Definition existiert nicht, und J. hat entschieden, dass sie für ihre Arbeit keine braucht.

Mir scheint, über einen Aspekt von Sexualität nachzudenken ist immer, als versuche man, einen Fisch festzuhalten: Er hält einfach nicht still, flutscht einem immer wieder durch die Finger und hat man ihn dann doch lang genug im Griff, um ihn eingehend zu betrachten, haucht er ziemlich bald sein Leben aus.

Deshalb habe ich es auch irgendwann auch aufgegeben, „Sexuelle Kultur“ zu definieren.

Was den Begriff jedenfalls von schnöder Sex-Positivität unterscheidet, ist die Anerkennung von Sexualität als Teil unserer Kultur und Kultiviertheit – analog zu Esskultur, Ausgehkultur, Kommunikationskultur.

Es macht keinen Sinn, Sex isoliert zu betrachten und zu „promoten“, als würde mehr und gelungenerer Sex allein irgendwas besser machen. Wie mir diese subjektive Subversivität in diesen Kreisen auf die Nerven geht! Man ist ja sooo emanzipiert und cool und revolutionär, weil man vögelt wie man will, und viel davon. Na, Glückwunsch auch.

Blöd nur, dass man nicht wirklich sagen kann, wir lebten in einer sex-negativen „Mainstreamkultur“, die man revolutionieren müsse. Klar, es gibt noch einiges zu verbessern, aber so richtig unterdrückt wird unser Sex nicht, oder?


Unverfrorener und schuldfreier Hedonismus allerdings schon...

Stellen wir uns vor, du würdest Sex für eine Weile als primäres Hobby betreiben und dafür genauso viel Zeit und Geld investieren wie andere fürs Klettern, Tauchen, Segeln, Malen oder Briefmarken sammeln. Wem gegenüber würdest du das ehrlich zugeben?

Einerseits leben wir in einer Kultur, die uns einreden will, es sei machbar und erstrebenswert, nahezu permanent glücklich und erfüllt zu sein. Andererseits lässt sie uns wenig Gelegenheit dazu: Produktivität, Leistungs- und Optimierungsdruck machen es nachgerade unmöglich, die Dinge wirklich zu genießen, die uns guttun.

Ein Blick in bestimmte Bereiche des Internets beweist: Die meisten, die einem entspannteren und gesünderen Leben entgegenstreben, kämpfen tagtäglich mit ihrem Gewissen. Resultat: Myriaden von Apps, die beim Sport, Meditieren, Schlafen, Essen helfen sollen. Individuell zusammengestellte „Self-Care-Routines und „Health-Care-Regimes“, die im besten Falle täglich diszipliniert durchgezogen werden.

Aber selbst das ist in die meisten Bevölkerungsgruppen offenbar noch nicht durchgedrungen. Meine Kunden* (mehrheitlich männlich) sind in der Regel ganz normale Durchschnittsmenschen, das heißt: Opfer unserer Zivilisation. Kurzatmig, übergewichtig, gestresst, unterkuschelt, untervögelt, unterliebt – und stumpf.

Ihre Sehnsucht nach echtem Kontakt und Fühlen ist oft riesig. Dennoch komme ich nicht an sie ran. Meine Tantra-Massage (eine ausführliche, kunstvolle Form der erotisch/sinnlichen Massage), geht einfach nicht unter ihre Haut, kann sie nicht wirklich erreichen.

Für eine erfüllende Sinnlichkeit reicht es nunmal nicht, sich hin und wieder ein Zeitfenster für saftiges Körper-Vergnügen aus dem ach so geschäftigen und gleichzeitig relativ langweiligen Leben herauszuschälen.

Umgekehrt kann man in sex-positiven Subkulturen beobachten, dass die Menschen dort nach und nach lernen, sich selbst und ihrem Leben anders zu begegnen.

J. und ich sprechen über Werte, Fertigkeiten und Haltung: Über Kreativität, Großherzigkeit, Wertschätzung, Verzückung. Über Integrität, Mitgefühl, Neugier und Vertrauen. Über Klarheit und Verantwortung. Über Wahrnehmung, Kunstfertigkeit und Könnerschaft.

Es wird ein interessantes und komplexes Gespräch – ich hoffe sehr, dass sie es für ihre Arbeit gebrauchen kann, auch wenn ich mit ihrem zentralen Begriff „Sex-Positivität“ nicht so viel anfangen konnte.

Man muss ja auch nicht immer so abstrakt denken...

Für ihre Zwecke und für die Alltagssprache ist er absolut tauglich, und wir brauchen taugliche Worte, um uns Dinge erträumen zu können: Zum Beispiel sex-positive Psychotherapie, sex-positive Gynäkologie, sex-positive Elternschaft, sex-positiven Sexualkundeunterricht.

Davon dass man uns da, wo´s drauf ankommt, sagt: Du bist voll ok, so wie du bist. Du darfst tun, was dir Lust bereitet, solange alle einverstanden sind. Sex kann man lernen. Es lohnt sich.

So. Zeit für mein Selbstliebe-Ritual.


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Eva Hanson

Eva erforscht sexuelle Kultur in Theorie und Praxis. Man könnte auch sagen, sie ist ein Sex-Nerd. Wenn sie keine Tantra-Massagen gibt, findet man sie meistens hinter einem Buch.

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