Ratschläge sind auch Schläge
Was ist da draußen nur los? Angesichts der scheinbar wachsenden Orientierungslosigkeit zum Thema Sex wundere ich mich immer wieder. All die Massen an Rat scheinen die Ratlosigkeit nicht zu beheben: Wie geht das? Wie macht „man“ es richtig? Wie macht „man“ es gut? Was will „der Mann“/“die Frau“? Wie oft ist oft genug? Bin ich normal? Wer bin ich und was sagt es über mich, wenn ich so oder so vögle? Was muss ich zu bieten haben? Ist flirten überhaupt noch erlaubt?
Das Internet platzt aus allen Nähten mit Ratschlägen und Tipps echter oder selbsternannter Sexpert*innen: Von „in 10 Tagen einen Mann erobern“ auf Wikihow über „Tantra für Anfänger“ auf kabeleins.de. bis zu „BDSM – die ultimative 10 Schritte Anleitung für dich“ auf dominacall24.de ist von allem was dabei – und natürlich in rauen Mengen Tipps für den perfekten Blow-Job in jeder zweiten Ausgabe der Frauenmagazine. An und für sich finde ich das gut so. Über Sex zu reden ist definitiv nützlicher als es nicht zu tun.
Diese Woche habe ich beim Stöbern im Netz unter anderem gelernt, dass für den besten Blowjob, den „er“ je hatte, der Einsatz der Zunge unabdingbar ist. So richtig beeindrucken kann ich „ihn“, wenn ich selbst auch Spaß an der Sache habe. Beim Flirten ist offenbar Augenkontakt, Lächeln und das Stellen von interessierten Fragen wichtig. Mein „Game“ als Pick-up Artist wird noch erfolgreicher, wenn mich mein „Target“ wirklich interessiert… - No shit, Sherlock?!
Sex-Ratgeber haben eine lange Tradition. Schon die alten Griechen formulierten Empfehlungen für gesundheitsförderlichen und ethisch einwandfreien Sex. In den 50er Jahren etablierte sich eine eigene Literaturgattung, die Paaren Orientierung bieten sollte, was im Bett gut/richtig/angemessen/natürlich/lustvoll sei und wie man es anstellt. Man kann sich denken, dass die Empfehlungen in den 50ern anders lauteten als in den 60ern oder den 90ern. Aber immerhin gab es für jede Generation scheinbar allgemeingültige Normen und Regeln, an denen „man“ sich orientieren konnte (oder auch nicht.. der Tabubruch und der Reiz des Verbotenen haben schließlich auch ein lange Tradition).
Heute scheint so ziemlich alles möglich und erlaubt zu sein, was nicht gesetzlich verboten ist. Ein kleines bisschen von der Norm abzuweichen ist sogar obligatorisch (gern in Form von gepolsterten Handschellen oder ausgefallenen Kondomen). Du willst doch wohl kein Spießer* sein? Dafür total authentisch und du selbst. Manche glauben sogar, sexuelle Identität und sexuelle Orientierung seien frei wählbar. Die eigene Sexualität als Teil des Identitäts-Baukastens. Wer willst du sein? Für wie lange?
Eins jedenfalls ist klar: Unseren Sex unablässig zu prüfen, zu erforschen und an ihm zu „arbeiten“ ist unabdingbar. Das beklagte der französische Philosoph Michel Foucault bereits in den 70er Jahren. Selbst die (angeblich) schönste, (angebliche) Nebensache darf auf keinen Fall naiv, verspielt und entspannt angegangen werden. Denn in ihr muss einerseits die eigene Essenz ausgedrückt werden, andererseits soll sie allen möglichen Ansprüchen genügen, über die wir uns jedoch verwirrenderweise nicht ganz im Klaren sind. Probleme sind ausschließlich individuell und als persönliches Versagen zu verbuchen. Dafür können wir alles erreichen, wenn wir uns nur noch mehr anstrengen.
Kein Wunder, dass sich bei vielen eine gewisse Ermüdung einstellt: Es soll einen weltweiten Trend zu weniger Sex geben. Glück hat, wer die eigene Lustlosigkeit nicht gleich als behandlungsbedürftige Störung einordnet. An anderen Stellen lässt sich beobachten, wie auf Kränkung und unerfüllter Sehnsucht Wut und Aggression gedeihen. Untervögelte und unberührte Männer („Incels“) radikalisieren sich in Internetforen und schießen schon mal um sich, weil ja nur die anderen – vor allem die Frauen – an ihrem Elend Schuld sein können. Weibliche „Unfuckables“ leiden bisher still und machen sich dafür vollumfänglich selbst verantwortlich.
Gegen freien Zugang zu sexuellem Wissen und nützlichen Informationen ist absolut nichts einzuwenden. Aber die derzeitige Struktur und Art des Sprechens über Sex im Internet scheint eher in einen kollektiven sexuellen Minderweitigkeitskomplex zu führen als in sexuelle Mündigkeit. Und die halte ich für verdammt wichtig. Lust ist persönlich hochgradig relevant und betrifft gleichzeitig die gesamte Gesellschaft. Unser Umgang mit sexueller Lust lässt sich nicht trennen vom Rest unserer Kultur.
Wir kommen um den Sex also nicht herum. Um die Ratschläge vielleicht schon.
Als zivilisierte Affen müssen wir uns gedanklich mit unseren Trieben und Bedürfnissen auseinandersetzen. Über die Kultivierung des Begehrens und Begattens nachdenken – auch öffentlich. Die richtigen Fragen stellen. Anerkennen, dass wir uns von der Gesellschaft, in der wir leben, nicht alles bieten lassen müssen. Schon gar nicht müssen wir uns einreden lassen, wie wir zu lieben und zu vögeln haben.
Das kann übrigens auch Spaß machen! Denn damit meine ich nicht, weiterhin nahezu ausschließlich all das (vermeintlich) Problematische, Gefährliche und ethisch Fragwürdige unserer sexuellen Kultur bis zum Erbrechen zu diskutieren und auszudifferenzieren. Wir alle formen und prägen sexuelle Kultur, mit allen unseren sexuellen Handlungen. Um das ein bisschen besser zu machen, müssen wir uns vorerst nur zwei Fragen stellen: Was würde uns wirklich Freude machen? Und: Worum geht es uns eigentlich, beim Lieben?
Auf dass wir uns die besseren Fragen stellen. Auf dass wir uns dem nähern, was Sexualität im Rahmen artgerechter Menschenhaltung sein könnte. Auf dass lustvolle Leiblichkeit den Platz bekommt, der ihr gebührt – und der befindet sich gewiss nicht auf dem Seziertisch.
Wenn wir herausgefunden haben, wie eine sexuelle Kultur aussieht, die Integrität und Würde fördert und echte Erfüllung möglich macht, können wir ja immer noch den besten Blowjob oder Cunnilingus aller Zeiten einüben… Das kann unsere Gesellschaft – meiner Meinung nach – auch nur besser machen.
Du willst mehr?